von Jürgen Hartmann

Ein besonderer Gottesdienst im Frühjahr 1756

Am Morgen des 26. Februar 1756 strömten die Einwohner des Dorfes Oerlinghausen wie viele in der Grafschaft Lippe in ihre Kirche.  Vielleicht werden die Bänke gar gefüllter gewesen sein als an anderen Sonntagen, denn die gräfliche Regierung in Detmold hatte einen besonderen Dank- und Bußgottesdienst angeordnet. Wenige Tage zuvor war etwas Unerwartetes, etwas Bedrohliches geschehen, das den Menschen jener Zeit unerklärlich war.

Das Erdbeben vom 18. Februar 1756

Am 18. Februar 1756, einem Mittwoch, hatte ein Erdbeben die Einwohner der Grafschaft Lippe heimgesucht und zutiefst verunsichert. Zu der damals vorherrschenden Furcht trugen Nachrichten über eine verheerende Katastrophe bei, die wenige Monate zuvor schnell bis nach Mitteleuropa vorgedrungen waren: Am 1. November 1755 hatte ein schweres Erdbeben mit einem begleitenden Tsunami die portugiesische Hauptstadt Lissabon fast vollständig zerstört. Schätzungsweise bis zu 100.000 Menschen waren dabei ums Leben gekommen. Die meisten Forscher gehen heute von einer Stärke von 8,5 bis 9 auf der Momenten-Magnituden-Skala aus.

Momenten-Magnituden-Skala und Intensität: Eine kurze Erläuterung

Die Momenten-Magnituden-Skala (Maßeinheit: Mw) beschreibt die Energie des Erdbebens. Die Skala hat keinen festgelegten Maximalwert. Das stärkste bisher bekannte Erdbeben lag bei 9,5 Mw. Es ereignete sich 1960 in Valdivia, Chile.

Die Intensität spiegelt die erlebten Auswirkungen vor Ort wider. Die maximale Stufe ist XII (12), was letztlich die vollkommene Zerstörung sämtlicher Bauwerke und massive Verformungen des Bodens bedeutet.

Die Auswirkungen des Bebens

Die Erderschütterungen des 18. Februars 1756 im hiesigen Raum zeigten sich allerdings deutlich schwächer. Es waren die Ausläufer eines Bebens, dessen Epizentrum bei Düren lag. Es verursachte schwere Schäden im rheinischen Raum. In Düren selbst wurden zwei Tote vermeldet, in Aachen brachen mehrere Häuser in sich zusammen, eine Kirche erlitt so schwere Schäden, dass sie abgerissen werden musste. Das sogenannte Schüttergebiet des Erdbebens erstreckte sich bis London und in anderer Richtung bis Magdeburg. Nach heutiger Einschätzung handelte es sich im Kernbereich um eine Stärke von 6,4 Mw und eine Intensität von VIII.

Erlebnisse der Bevölkerung in Lippe und Oerlinghausen

In Lippe war das Beben ab etwa 8 Uhr morgens zu spüren. In Lemgo nahmen Besucher des Morgengottesdienstes in der Neustädter Kirche um diese Zeit Erschütterungen wahr und beobachteten, wie der Kronleuchter plötzlich bedrohlich pendelte. In ihrem Schrecken stürmten die meisten Menschen panisch aus dem Gotteshaus und eilten Psalmen singend zu ihren Häusern. In Heiligenkirchen läuteten die Glocken der Kirche wie von Geisterhand und blieben angeblich fünf Minuten in Bewegung.

Was sich in Oerlinghausen an jenem Tag ereignete, berichtete der dortige Amtmann nach Detmold. Ein „schreckenvolles Erdbeben“ sei am Morgen zwischen 8 und 9 Uhr aufgetreten. Der Colon Lüking, „welcher das Morgenbrot [habe] essen wollen, [habe] mit äußersten Schrecken gesehen …, daß sich der Tisch, welcher an der Wand fest ist, dergestalt beweget, daß er die Schüssel, worin das Essen war, ergreifen musste“. Ein großer Klotz, auf dem er saß, und der in der Stube stehende Webstuhl hätten sich ebenfalls bewegt. Seine Frau, die neben diesem saß, fürchtete, „dass er ihr auf den Leib gefallen“. Das gesamte Haus hätte geschwankt. Eine andere Frau erlebte Ähnliches: „Die Thüren ihrer Bettstelle [haben sich] von selbsten geöffnet und zwar dreymalen, die Bettstätte sei wie eine Wiege gegangen.“ Die Erde bebte dabei unter ihren Füßen und die Lampe unter der Decke sei „hin und her geschlagen“. Dem Nachbarn sei ebenfalls großer Schrecken widerfahren, die Bettläden und die Kammertür seien aufgesprungen, die Zagenringe hätten gerasselt und das in der Stube krank darnieder liegende Kind habe ängstlich die Mutter um Hilfe gerufen. Im benachbarten Asemissen traf es ebenfalls mehrere Einwohner beim Frühstück. Die Stühle hätten sich so stark bewegt, dass die auf ihnen sitzenden „zur Erde niedergefallen und gebehtet haben.“ Dann war der Spuk vorbei.

Abb. 1: Aus dem Oerlinghauser Bericht über das Erdbeben, 1756 (Landesarchiv Detmold)

Religiöse Deutung und Bußgottesdienste

Die Menschen blieben angsterfüllt, aber auch erleichtert zurück. Kenntnisse über die naturwissenschaftlichen Zusammenhänge existierten damals nicht. Ein jeder war überzeugt, dass der allmächtige Gott durch dieses Erdbeben den Erdenbürgern seinen Zorn für ungebührliches Verhalten zu erkennen geben wollte. Man deutete das Ereignis folglich als Strafgericht des Himmels. Dementsprechend wurden allerorten Buß- und Betgottesdienste angeordnet.

Das historische Erdbeben von 1612

Es ist nicht bekannt, ob sich die Menschen in Oerlinghausen jener Tage an Erzählungen über ein großes Erdbeben beinahe eineinhalb Jahrhunderte zuvor entsannen. Örtliche Berichte aus jener Zeit existieren nicht, obwohl Forscher das Epizentrum des Bebens unweit des Dorfes bei Leopoldshöhe lokalisieren. Am 9. November 1612 (nach heutigem gregorianischem Kalender) begann eine Serie von Erschütterungen im hiesigen Bereich. Der Blomberger Pfarrer Johannes Piderit (geb. 1559, gest. nach 1639) schrieb in seiner 1627 erschienenen Lippischen Chronik (Chronicon Commitatus Lippiae):

„Anno 1612, den 30. Octbr. [= 9. November] ließ Gott eine beschwerliche Erdböbunge auff diese Provinz und benachbarte Orter kommen / und fühleten dieselbige die Stadt Lemgaw [Lemgo] / Herfurdt [Herford] / Bielfeldt [Bielefeld] und anschiessende Dorffschafft und Orther / war diese Erdböbunge also starck / daß sich die Glocken auff den Thürnen / so wol auch die Fenster und Thüren in den Angeln hören liessen.

Folgendes den 2. Novembr. [= 12. November] hat vorgedachtes Erdböben getroffen die Stadt Dethmoldt und die benachbarte Orter umbher. Es ist nicht dabey geblieben / sondern auch offtmals wiederholet. Gott wolle auß Gnaden diesen Ländern hinfüro geben / was nutz und zur Seeligkeit dienlich und vonnöthen ist.“

Abb. 2: Das Erdbeben von 1612 in der Chronik Piderits (1627)

Die betroffenen kleineren Ortschaften sind nicht namentlich erwähnt. Dass aber Oerlinghausen betroffen war, weil es unweit des Epizentrums lag, ist sehr wahrscheinlich. Es lag quasi im „Beben-Dreieck“ Bielefeld – Lemgo – Detmold.

Erdbebenschäden in Bielefeld und Umgebung

In Bielefeld hatte das Beben deutliche Spuren hinterlassen. Ein Flugblatt des Kölner Kupferstechers Gerhard Altzenbach (geb. vor 1590, gest. nach 1672), das kurz nach dem Ereignis in Umlauf kam, schildert in Reimform die sichtbaren Folgen in der Stadt. Ein eindringlicher Kupferstich zeigt Panikszenen und Schäden an Gebäuden wie dem Franziskanerkloster. Altzenbach berichtet von herabfallenden Schornsteinen, von einstürzenden Mauern, von starken Rissen in Häusern und vermerkt ebenfalls eine 2 Fuß starke Absenkung der Mauer an der Sparrenburg.

Abb. 3: Das Flugblatt des Kupferstechers Gerhard Altzenbach, 1612/13

Der Osnabrücker Theologe Rudolph von Bellinckhausen (1567-1645) verfasste 1613 die Schrift „Motuum terrae graphia“, eine 90-seitige Beschreibung „fast aller Erdbeben“. Es sind auch die Ereignisse des Novembers 1612 beschrieben. Für den 30. Oktober [= 9. November] führt er an:

„Auß Lemgo, Hervord, und Bylfeldt, wirdt kläglich Zeitung wahr erzelt. Das diesen Grensn schrecken berührt / und gahr lang Erdbidem gespürt. Das Thurm und Heuser bewogn darvon / Die Glockn gegebn selbst Gethon. Dardurch Maurn / Tächer / und Schorstein / zergrauset / gerissn / gefallen sein. Druber viel Menschen in Furcht gejagt / Etzlich dar wenig nach gefragt …“

Die Beben setzen sich bis zum 10. November 1612 [= 20. November] fort und betrafen weitere Orte nahe Oerlinghausen:

„Das Hauß Sparrenberg wie gedacht / zitterendt und sehr bebend gemacht. Salz-Ufeln, Schoetmar unds Hauß Brack [= Schloss Brake], Befunden diese Straff und Raech.

Wie all umbliegend Orter mehr / geängst und hoch betrübet sehr.“

In Bellinckhausens Schrift findet sich übrigens noch der Hinweis auf ein Beben im Jahr 1528 mit Auswirkungen in Bielefeld, auf der Sparrenburg, in Brackwede und im Stift Paderborn.

Noch acht Jahrzehnte später (1698) berichtete der Ravensberger Amtsschreiber Ernst Alemann, dass die Menschen „dadurch erschrocken, unlustig und krank geworden“ seien.  

Experten zufolge war die erste Welle des Bebens die heftigste und soll einen Wert von fast 5 Mw aufgewiesen haben.

Das Beben des Jahres 1767

Ein weiteres Erdbeben, welches durch zeitgenössische Quellen für Oerlinghausen belegt ist, ist jenes vom 19. Januar 1767. Bei vielen Einwohnern wird das Ereignis von 1756 noch in frischer Erinnerung gewesen sein. Nur kurze Zeit später erschien mit den Lippischen Intelligenzblättern die erste Zeitung in der Grafschaft Lippe. Die vierte Ausgabe vom 28. Februar enthält einen interessanten Bericht über die Geschehnisse. Bereits acht Tage und in der Nacht vor dem Beben bemerkten einige Bürger in Detmold leichte Erdstöße. Um 9.30 Uhr dann am Montag, dem 19. Januar, waren neben „Getöse“ auch Dämpfe und Gerüche wahrnehmbar. Sehr dunkle Wolken seien schnell über die Stadt hinweggezogen. Ähnliches wäre in Kohlstädt beobachtet worden. In einigen Waldgebieten kam es offenbar zu Baumbruch. In Detmold zersprang „das sehr dick gefrorene Eis des Schlossgrabens mit großem Krachen“. Das Wasser darin hätte außerdem eine dunkle Farbe angenommen. Etwas stärkere Auswirkungen zeigte das Beben dagegen in Heiden, Heiligenkirchen, Schlangen und in Oerlinghausen.

Am gleichen Tag noch sandte der Oerlinghauser Amtmann einen Bericht nach Detmold:

„Heute Morgen um halb 10 Uhr empfunden wir alhier ein sehr starkes Erd-Beben, welches beynahe 2 Minuten anhielte, und zwar dermaaßen, daß davon die Thuren, Schränke und Stuhle in denen Stuben, ja die Haußen selbst sich sehr stark bewegeten. Soviel ich bisher erfahren, ist Gott sey Dank! davon an denen Haußen gar kein Schade geschehen.“

Eine Notiz fügte der Schreiber noch an:

„Soeben zeigete der hiesige Küster doch bey mir an, daß von diesem Erdebeben einige Risse in dem Gewölbe hiesiger Kirche entstanden.“

Abb. 4: Aus dem Oerlinghauser Bericht, 1767 (Landesarchiv Detmold)

In Heiligenkirchen wackelte der Kirchturm. In Schlangen sprangen die Fenster und die Haustüren vieler Häuser auf, die gemauerten Öfen erlitten Schäden. Das „Federvieh“ schrie und rannte aufgeregt durch die Gegend. Begleitet war das Geschehen von einem starken Knall und einem Krachen, das „wenigstens eine halbe Minute gedauert“ habe. Das Beben verängstigte zahlreiche Menschen dort so sehr, dass sie sich und das Vieh ins Freie retteten. Einige gaben an, in ihren Häusern Dampf und Schwefelgeruch wahrgenommen zu haben. Die Intensität des Bebens wird von Fachleuten mit VI bis VII eingestuft. Wie im Jahr 1756 wurde wiederum zu einem Bußgottesdienst aufgerufen.

Das rheinische Erdbeben von 1878

Über ein viertes Beben ist noch zu berichten. Es handelt sich um das „rheinische Erdbeben“ vom 26. August 1878. Das Epizentrum wird bei Tollhausen unweit von Jülich und dem Tagebau Hambach verortet. Das Beben wird im Zentrum auf 5,6 Mw und die Maximalintensität auf VIII eingestuft. Die Auswirkungen reichten in ihrer Ausdehnung bis Freiburg, Erfurt und Hannover. Für Bielefeld wird noch eine Intensität von 3,2 angenommen. Es kam in zahlreichen Orten des Rheinlandes zu teilweise schweren Gebäudeschäden.

Am Morgen des 26. August kurz nach 9 Uhr spürten die Setzer und Buchbinder der Druckerei Klingenberg in Detmold ein mehrere Sekunden andauerndes Beben. In der Wohnung des Bürgermeisters Heldman schwankte ein Wandspiegel hin und her. Die Erschütterungen waren besonders im Bereich der heutigen Innenstadt zu spüren. Im Fürstlichen Schloss – so beschrieb es ein Hofmarschall – saß ein verblüffter Prinz Hermann gerade auf dem Sofa und erlebte zwei Erdstöße. Der Fußboden habe „hörbar geknackt“ und die Wandtapete „laut geknistert“. Zur gleichen Zeit spürten die Einwohner von Lemgo, Lage und Bielefeld eine „starke wellenförmige Erderschütterung“. In den folgenden Tagen gingen weitere kleine Berichte aus Bad Meinberg und Lage ein. Überall zitterten Gebäude und wackelten Möbel. In Bielefeld seien die Schwankungen so stark gewesen, dass Tassen und Teller in den Schränken klirrten.

Wissenschaftliche Entwicklungen und das Ende religiöser Deutungen

Religiöse Deutungen rückten zu jener Zeit bereits in den Hintergrund. Drei Jahrzehnte zuvor hatte man in Japan mit einer wissenschaftlichen Erbebenforschung begonnen. Eine Art früher Seismometer wurde 1841 in Deutschland unter anderem von Carl Friedrich Gauß entwickelt, aber ein erstes präzises Gerät stand erst um 1880 mit einer Erfindung britischer Ingenieure zur Verfügung.

Abbildungen

1 Bericht Oerlinghausen, 1756

2 Chronik Piderit, 1627

3 Flugblatt Altzenbach, 1612/13

4 Bericht Oerlinghausen, 1767


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