In den letzten Jahren zeichnet sich ein wachsendes populäres Interesse an der Geschichte der ‚Germanen‘ ab, das sich zum Beispiel im 2000-jährigen Jubiläum der Varusschlacht, in Living History-Formaten oder der 2020 erschienenen Netflix-Serie ‚Barbaren‘ zeigt. Trotz verstärkter wissenschaftlicher Diskussionen über den Germanenmythos (Verständnis des Begriffs als „Verklärung der Germanen bzw. einer Idee vom Germanischen“ nach Wiwjorra 2006: 10) finden sich klischeebehaftete Vorstellungen von den Lebensformen und -welten der ‚Germanen‘ noch heute wieder. Diese verfälschten Auffassungen wurden auch durch Medien wie Schulwandbilder verbreitet und dadurch immer wieder gestützt und bestätigt. Schulwandbilder sind unter anderem auf Internetportalen käuflich erwerbbar und für jedermann ohne jegliche kritische Einordnung in den historischen Kontext einsehbar.

Diese Blogreihe befasst sich mit der Frage, inwieweit und in welcher Weise im Schulwandbild Architekturformen der jeweiligen zeitgenössischen Gegenwart archaisiert und umgekehrt vergangene Architekturformen mit der bürgerlichen Moderne gleichgesetzt wurden. Dieser erste Teil stellt eine allgemeine Einführung dar, bevor es in den weiteren zwei Teilen um die dargestellten Architekturelemente geht.

Das Medium ‚Schulwandbild‘

Schulwandbilder waren vom Kaiserreich bis in die 1970er Jahre ein zentrales Medium des Schulunterrichts (vgl. Uphoff 2002: 14), bevor neue technische Möglichkeiten das Schulwandbild aus den Klassenzimmern verdrängten (vgl. ebd. 2006: 128). Sie hingen über Wochen oder Monate im Klassenzimmer und dienten als Wandschmuck. Aufgrund ihrer relativ einfachen Herstellung konnten Schulwandbilder verhältnismäßig schnell an aktuelle Ereignisse angepasst werden. Als großflächige farbige Bilder wirkten sie in einem noch bilderarmen Alltag nachhaltig auf Schülerinnen und Schüler (vgl. zum Vorherigen Müller 2003: 125f.; vgl. ebd. 1997: 212f.). Im Geschichtsunterricht vermittelten Schulwandbilder eine durch den jeweiligen Zeitgeist vorgeprägte, vermeintliche Wirklichkeit. An ihnen lassen sich daher heute vor allem die Vorstellungen und Stereotype der Entstehungszeit ablesen (vgl. Institut für Pädagogik der Universität Würzburg 2023; vgl. Uphoff 2002: 15).

Germanendarstellungen als Teil umfassenderer Geschichtsbilder

Schulwandbilder zeigen unter anderem, wie ‚Germanen‘ gelebt haben sollen. Der Germanenbegriff als Fremdzuschreibung römischer Autoren für Gebiete, die östlich des Rheins liegen, wurde in der Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts wesentlich weiter gefasst (vgl. Sénécheau 2012: 220). Damals setzte man die ‚Germanen‘ mit den ‚Deutschen‘ gleich und konstruierte eine Kontinuitätslinie der ‚Germanen‘ von der Ur- und Frühgeschichte bis in die Gegenwart (vgl. Klamm 2014: 174).

In der Weimarer Republik wurden archäologische Quellen verstärkt ethnisch interpretiert (vgl. Sievertsen 2013: 101-106).So vertrat der völkisch-nationalistische Archäologe Gustaf Kossinna (1858-1931) in den 1920er Jahren die Auffassung, dass man anhand archäologischer Funde auf eine bestimmte einheitliche Ethnie schließen könne. Die vermeintliche ‚Kulturhöhe‘, die man durch archäologische Funde ablesen könne, wurde zu einem ethnischen Merkmal. Sie sollte territoriale Ansprüche legitimieren (vgl. Jung 2015: 26f.). Die ur- und frühgeschichtliche Archäologie wurde politisiert (vgl. Steuer 2004: 398f.) und völkische Vorstellungen durch Angehörige der völkischen Bewegung, darunter Lehrkräfte, Professoren, Beamte etc., und durch Medien wie die Schulwandbilder verbreitet (vgl. Puschner 2004: 105; vgl. Jung 2015: 27; vgl. Hassmann 2002: 110-116).

Die Nationalsozialisten integrierten Kossinnas Ideen in ihre Ideologie und Propaganda. Einer der wichtigsten Vertreter seiner Thesen war Alfred Rosenberg. Er hatte 1934 mit seiner Ernennung zum ‚Beauftragten des Führers für Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP‘ die Leitung des im selben Jahr gegründeten ‚Amts Rosenberg‘ inne (vgl. Jung 2015: 28). Im Dritten Reich entstanden die Schulwandbilder in enger Absprache zwischen den Kunstschaffenden, den Verlagen, den fachwissenschaftlichen Beratern und den jeweiligen Institutionen. Für die Produktion im Dritten Reich waren die bestimmenden Institutionen der ‚Reichsbund für Deutsche Vorgeschichte‘ und die Abteilung Vorgeschichte des erwähnten ‚Amts Rosenberg‘ (vgl. Beck/Timm 2015: 53f.). Der bestehende Germanenmythos wurde an die NS-Ideologie angepasst, sodass ein NS-konformes Geschichtsbild an Schülerinnen und Schülern vermittelt werden konnte (vgl. Coesfeld 2018).

Zwei verschiedene Theorien finden insbesondere in den Begleittexten der Schulwandbilder ihren Ausdruck: Die sogenannte Ex oriente lux (=aus dem Osten [kommt] das Licht)-Theorie ist im 19. Jahrhundert entstanden und fußt auf der biblischen Schöpfungsgeschichte. Laut dieser Theorie seien die ersten sog. ‚Hochkulturen‘ in Asien entstanden. Diese seien dann im Zuge des Übergangs zu einer sesshaften Gesellschaft, die Ackerbau und Viehzucht betreibt, bis in den Norden Europas gelangt (vgl. Sievertsen 2013: 75; vgl. Coesfeld 2018; vgl. Wiwjorra 2010: 636). Gegensätzlich dazu hätten die ‚Germanen‘ bzw. ‚Arier‘, die bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert als Einheit gesehen wurden, ihre ‚Hochkultur‘ aus dem Norden in die gesamte Welt getragen (vgl. ebd.; vgl. Sievertsen 2013: 76f.). Dies ist der Kerngedanke der Ex septentrione lux (=aus dem Norden [kommt] das Licht)-Theorie. Die Idee wurde durch die Annahme gestützt, dass die ‚nordische Rasse‘, zu der die ‚Germanen‘ gezählt wurden, aufgrund ihrer erblichen Veranlagungen besonders geeignet sei, die geschaffenen kulturellen Leistungen zu verbreiten (vgl. ebd.; vgl. zum Vorherigen auch Abb. 1). Dabei wurden die ‚nordrassigen Germanen‘ als die unmittelbaren Vorfahren der Deutschen angesehen.

Abb. 1: Gegenüberstellung der Geschichtsbilder Ex oriente lux und Ex septentrione lux, entnommen aus: Klagges, Dietrich: Geschichtsunterricht als nationalpolitische Erziehung, Frankfurt am Main 31937, S. 214.

Literaturverzeichnis

Beck, Erik; Timm, Arne: Das nationalsozialistische Germanenbild auf Schulwandbildern der NS-Zeit, in: Beck, Erik; Timm, Arne (Hrsg.): Mythos Germanien. Das nationalsozialistische Germanenbild in Schulunterricht und Alltag der NS-Zeit, Dortmund 2015, S. 36-59.

Coesfeld, Marcus: Völkische Verfälschungen – Von den „Ur-Germanen“ zum „Dritten Reich“, in: AFM-Blog, veröff. am 15.10.2018, https://blog.afm-oerlinghausen.de/voelkische-verfaelschungen-von-den-ur-germanen-zum-dritten-reich/ (Zugriff: 05.01.2024).

Hassmann, Henning: Archäologie und Jugend im „Dritten Reich“. Ur- und Frühgeschichte als Mittel der politisch-ideologischen Indoktrination von Kindern und Jugendlichen, in: Leube, Achim (Hrsg.): Prähistorie und Nationalsozialismus. Die mittel- und osteuropäische Ur- und Frühgeschichtsforschung in den Jahren 1933-1945, Heidelberg 2002, S. 107-146.

Institut für Pädagogik der Universität Würzburg: Schulwandbilder Geschichte und Forschung, https://www.paedagogik.uni-wuerzburg.de/forschung/forschungsstelle-historische-bildmedien-wuerzburg/schulwandbilder-geschichte-und-forschung/, Würzburg 2023 (Zugriff: 02.12.2023).

Jung, Patrick: Archäologie in Deutschland zur Zeit des Nationalsozialismus. Ein Überblick, in: Beck, Erik; Timm, Arne (Hrsg.): Mythos Germanien. Das nationalsozialistische Germanenbild in Schulunterricht und Alltag der NS-Zeit. Dortmund 2015, S. 24-33.

Klamm, Sabine: Römer und Germanen im Schulwandbild, in: Schmitz, Dirk; Schreiter, Charlotte (Hrsg.): An den Grenzen des Reiches. Grabungen im Xantener Legionslager am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Mainz 2014, S. 174-181.

Müller, Walter: Schulbücher und Schulwandbilder im Spiegel der Forschung, in: Wiater, Werner (Hrsg.): Schulbuchforschung in Europa – Bestandsaufnahme und Zukunftsperspektive, Bad Heilbrunn 2003, S. 119-137.

Müller, Walter: Schulwandbilder als Quellen schul- und bildungshistorischer Forschung, in: in: Schmitt, Hanno; Tosch, Frank; Link, Jörg W. (Hrsg.): Bilder als Quellen der Erziehungsgeschichte, Bad Heilbrunn 1997, S. 191-217.

Puschner, Uwe: Germanenideologie und völkische Weltanschauung, in: Beck, Heinrich; Ge uenich, Dieter; Steuer, Heiko; Hakelberg, Dietrich (Hrsg.): Zur Geschichte der Gleichung „germanisch – deutsch“: Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen, Berlin u.a. 2004, S. 103-130.

Sénécheau, Miriam: Die Germanen sind wieder da: Archäologische, didaktische und gesellschaftspolitische Perspektiven auf ein altes Thema in neuen Lehrwerken, in: Archäologische Informationen 35 (2012), S. 219-234.

Sievertsen, Dirk: Die Deutschen und ihre Germanen. Germanendarstellungen in Schulgeschichtsbüchern von 1871 bis 1945, Rahden/Westf. 2013 (Zugl. Diss. Osnabrück 2012).

Steuer, Heiko: Das „völkisch“ Germanische in der deutschen Ur- und Frühgeschichtsforschung: Zeitgeist und Kontinuitäten, in: Beck, Heinrich; Geuenich, Dieter; Steuer, Heiko; Hakelberg, Dietrich (Hrsg.): Zur Geschichte der Gleichung „germanisch – deutsch“: Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen, Berlin u.a. 2004, S. 357-502.

Uphoff, Ina Katharina: Der künstlerische Schulwandschmuck im Spannungsfeld von Kunst und Pädagogik. Eine Rekonstruktion und kritische Analyse der deutschen Bilderschmuckbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts, Diss. Würzburg 2002.

Uphoff, Ina Katharina: Wider Chaos und Zerfahrenheit: die didaktische Präparation der Welt im Schulwandbild, in: Zeitschrift für pädagogische Historiographie 12/2 (2006), S. 127-136.

Wiwjorra, Ingo: Art. Urheimat, in: Brather, Sebastian; Heizmann, Wilhelm; Patzold, Steffen (Hrsg.): Germanische Altertumskunde Online, Berlin u.a. 2010, [Sp. 627-641], online unter: https://www.degruyter.com/database/GAO/entry/RGA_6779/html (Zugriff: 29.12.2023).

Wiwjorra, Ingo: Der Germanenmythos. Konstruktion einer Weltanschauung in der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts, Darmstadt 2006.


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