Der Mensch stammt bekanntlich vom Affen ab. Deshalb äfft er nach Leibeskräften und mit einschlägigem evolutionärem Erfolg alles nach, was in seine Reichweite kommt. Auch seine eigene Geschichte. Wenn er Krieg spielt, nennt er das Reenactment, wenn er Frieden spielt, heißt das Living History. Irgendetwas scheint er damit verarbeiten zu wollen – auf eine
Art und Weise, die bereits vor seinem Primatendasein von der Evolution angelegt wurde. Deshalb – aufgrund seiner Offenheit und Unverbindlichkeit – ist der spielerische Umgang mit Geschichte kein guter Anknüpfungspunkt für die extreme Rechte. Diese nimmt Geschichte in der Regel todernst.
Die moderne Living History entwickelte sich aus ganz unterschiedlichen Szenen heraus, die in der Regel alles andere als rechts waren: Aus der frühen Ökobewegung der 1970er-Jahre, aus den Indianervereinen der DDR, aus Rollenspielkreisen, die das 1971 entwickelte Regelwerk Chainmail (»Kettenrüstung«) nutzten, und nicht zuletzt aus den Geschichtswerkstätten, die in der Tradition der Arbeiterbildungsvereine die Menschen dazu animieren wollten, den Zugang zu ihrer Geschichte in die eigene Hand zu nehmen. Das waren vor allem Gruppen aus dem damaligen alternativen Spektrum. Selbst das tendenziell eher reaktionäre Nachstellen von Schlachten wird heute aus den unterschiedlichsten Motivationen heraus betrieben. Es begann zunächst als herrschaftstragende Geschichtsinszenierung. Dies blieb über Jahrhunderte hinweg bis in die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhundert auch so. Heute gibt es vielfältige Einstiege in das Thema, wie etwa das Reenlarpment, ein Mix aus Reenactment und Rollenspiel. Europaweit dürfte die Zahl der Living-History-Aktiven – bei steigender Tendenz – die Millionengrenze überschritten haben.
Spätestens seit Beginn der 1980er-Jahre tauchen aber auch in dieser Szene intensiv missionierende rechte Gruppen auf. Die Agitatoren stammten in dieser Pionierzeit meist aus völkischen neuheidnischen Gemeinschaften oder aus dem Umfeld extrem rechter Jugendorganisationen. In den frühen 1990er-Jahren war die Neuheidengruppe Wotansvolk des US-Rechtsterroristen David Lane für Teile der osteuropäischen Wikingerszene stilbildend. Insbesondere das 2000 in Deutschland verbotene, aber in anderen Ländern immer noch frei agitierende Blood & Honour-Netzwerk trug seit Mitte der 1980er-Jahre zum Wikinger- und Germanenkult bei. Blood & Honour ist eine internationale Vereinigung zur Verbreitung nationalsozialistischer Musik und nationalsozialistischer Gedanken. In den 1980er-Jahren arbeitete die Band Skrewdriver des Blood & Honour Mitbegründers Ian Stuart Donaldson in neuartiger Weise mit Themen zu Thor und Wotan. Skrewdriver war d a s Vorbild für viele nachfolgende Rechtsrock-Bands. Auch jenseits des Musikgeschäfts spielten frühgeschichtliche Themen im Blood & Honour Netzwerk eine ungewöhnlich große Rolle, sei es in Fanzines oder allgemein im Netz.

Vor allem in Osteuropa war Blood & Honour mit diesem nicht selten religiös anmutenden Angebot erfolgreich. In vielen ehemaligen Ostblockstaaten waren christliche Erzählungen soweit verdrängt, dass sie durch andere ersetzt werden konnten. Auch Wikinger-Reenactment war damals in der rechten Szene ein Thema. Ein Beispiel von vielen ist das neonazistische Fanzine White Supremacy, an dessen Erstausgabe vermutlich das NSU-Mitglied Uwe Mundlos beteiligt war. In den Ausgaben 2 und 3 wird intensiv über Wikinger-Reenactmentveranstaltungen berichtet. Dies war um die Jahrtausendwende noch ein exotisches Thema. Eine sich III. Heerbann nennende Gruppe schreibt ausführlich und nicht ganz unpolitisch in White Supremacy von einer Schlacht, die im Jahr 2000 bei der Burg Rabenstein in Chemnitz stattgefunden hat. Mit dem Ruf »Töten für Wotan« hatten sich die frühgeschichtlich kostümierten Skinheads in beachtlicher Zahl ihren Gegnern entgegengeworfen. Stolz lässt man dabei fallen, dass auch der Mitteldeutsche Rundfunk über eine Schlachteninszenierung der Gruppe einen positiven Beitrag ausgesendet habe.
In der nächsten Ausgabe brachte eine sich F. l. s. p. nennende Gruppe aus Pirna einen längeren Bericht zu einem Osterfest mit frühmittelalterlicher Schlacht. Bereits im Sommer 1997 erschienen Beate Zschäpe, Uwe Mundlos, Uwe Bönhardt und Holger Gerlach auf polizeilichen Kontrolllisten zu einem vom Thüringer Heimatschutz organisierten Wikingerfest. Das Programm bestand aus dem unvermeidlichen Axtwerfen, aus Hinkelsteintragen und aus Metausschank.
Zeitgleich erlebte Living History auch ganz allgemein einen Boom. Spätestens seit dem Varusschlachtjubiläum wurde sie in den Medien allgegenwärtig. Kaum eine der ungezählten TV-Produktionen zum Thema, aber auch kaum eine museale Großveranstaltung kam 2009 ohne Germanendarstellung aus. In dieser Zeit konnte sich die Gruppe Ulfhednar als erfolgreichste Marke in der Geschichte der Germanendarstellung etablieren. Diese Gruppe verfügte über hervorragende Referenzen durch deutsche Großmuseen und durch das Leitmedium Fernsehen. Ulfhednar hat das Bild der Frühgeschichte in den Medien wesentlich geprägt – zu den besten Sendezeiten, die man sich denken kann. Das durch Ulfhednar vertretene Frühgeschichtsbild wurde dabei durch führende deutsche Archäologieinstitutionen legitimiert. Archäologische Leitmuseen wie etwa das Museum für Vor- und Frühgeschichte der Stiftung Preußischer Kulturbesitz zu Berlin oder das Römisch-Germanische Zentralmuseum in Mainz engagierten die Gruppe für öffentliche Präsentationen. Eine Bremer Landesausstellung des Jahres 2007 wählte ein Lebensbild von Ulfhednar sogar als Titelmotiv für Prospekt und Plakat.
Es war eine lange Diskussion, bis die großen staatlichen Museen in Deutschland Abstand davon nahmen, Ulfhednar zu fördern. Dies geschah erst nach Offenlegung eines Bündels unterschiedlicher Verstrickungen von Ulfhednar mit rechtsextremer Propaganda: Ein Auftritt von Ulfhednar-Mitgliedern mit dem Beisein des heute verbotenen, neonazistischen und paramilitärischen Slawjanski Sojus in Moskau, demonstrativ im Netz und auf einem CD-Cover zur Schau gestellte Kontakte zu Rob Darken, einer Ikone des internationalen, genozidbejahenden Neonazismus, die öffentliche Präsentation einer pizzatellergroßen »Meine Ehre heißt Treue«-Tätowierung bei der Eröffnung einer der größten Frühmittelalter-Ausstellungen der letzten Jahre in Paderborn, abb. 16 die überbordende, nach Selbstzeugnissen programmatische Verwendung von Hakenkreuzen bei Ulfhednar und vieles mehr. Ein besonders plakatives Beispiel sind einige Kampfschilde der Gruppe, auf denen das Hakenkreuz auf bombastische Dimensionen projiziert wird.

Solche Darstellungen verbindet kaum etwas mit dem, was wir aus dem Frühmittelalter kennen. Um so verwunderlicher ist es, dass ausgerechnet prominente Vertreter des Faches Vor- und Frühgeschichte auch nach Offenlegung der ersten Skandale demonstrativ an Ulfhednar festhielten. Einige Großmuseen versuchten noch lange, Ulfhednar mit ihrer amtlichen Deutungsmacht reinzuwaschen. Keine andere Living-Historygruppe in Deutschland wurde so von diesen Institutionen unterstützt wie Ulfhednar. Den engen Kontakt der Gruppe in die Wissenschaft zeigt ein Vorfall auf dem Deutschen Archäologiekongress in Mannheim 2008, der im Zweijahresrhythmus stattfindenden zentralen Archäologietagung der Bundesrepublik. Dort gab der renommierte Münsteraner Vor- und Frühgeschichtsprofessor Albrecht Jockenhövel eine Protestnote zu den für ihn unerträglichen Vorkommnissen mit Ulfhednar auf öffentlichen Veranstaltungen in staatlichen Museen ab. Die hervorragende Vernetzung der Gruppe im Fach führte dazu, dass sie sofort über den Vorgang informiert wurde.

Bereits am selben Tag erschienen führende Ulfhednar-Mitglieder mit ihren Wolfshunden auf dem Kongress. Es wurde nach dem Münsteraner Professor gesucht, der über einen Hinterausgang die Tagung verließ. Bis heute genießt Ulfhednar in Frankreich und Polen und in den Medien einen guten Ruf, einige Mitglieder bauen in Thüringen ein eigenes Freilichtmuseum. Eine klärende Aufarbeitung des Themas fand nicht statt.
Vielmehr sollte geklärt werden, ob in dieser Form Geschichte im öffentlichen Raum präsentiert werden sollte. Bei der Interpretation der Frühgeschichte geht es nicht nur um die Erzeugung unverbrauchter Bilder für den Medienmarkt. In erster Linie liefern die Fachinstanzen unbewusst ein Erklärungsmodell dafür, wie es zu unserer heutigen Gesellschaft gekommen ist. Angesichts der täglichen beliebigen Informationsflut erwarten die Besucherinnen und Besucher in Museen verlässliche Informationen. Sie erwarten von den Aussagen in einem Museum, dass sie in einem hohen Maß allgemeingültig sind. Auch gehen sie davon aus, dass sie für unsere Gesellschaft eine besondere – also erhaltenswerte – Bedeutung haben. Und sie vertrauen mehr oder weniger auf diese Allgemeingültigkeit und Wertigkeit. Politische Botschaften haben deshalb in einem historischen Museum ein fundamental anderes Gewicht als an anderen Orten, etwa auf einem Mittelaltermarkt oder im Internet.