Das Germanengehöft von 1936
Das Archäologische Freilichtmuseum hat eine lange Geschichte: Es wurde als das erste germanische Freilichtmuseum der Welt 1936 eröffnet. Hier sollte an die Grabungen des Museumsgründers Hermann Diekmann aus den Jahren 1926 bis 1931 erinnert werden. Bei diesen wurden Brandgrubengräber aus der jüngeren vorrömischen Eisenzeit und Architekturbefunde, die er pauschal ebenfalls in die „germanische“ Epoche datierte, aufgedeckt. Nach heutiger Einschätzung hatte er einen immer wieder aufgesuchten Siedlungsplatz mit starkem Fundniederschlag aus dem 8./9. nachchristlichen Jahrhundert erfasst. Dies war auch der damaligen Forschung bewusst, eine museale Umsetzung wurde deshalb lange Zeit abgelehnt. Erst 1935 ließ man im Rahmen der Planungen zur 900-Jahrfeier der Stadt Oerlinghausen die fachlichen Bedenken fallen.
Das neue Vermittlungskonzept
Präsentiert wurde ein neues Germanenbild, dessen Herleitung aus der Fachwissenschaft nachdrücklich zur Schau gestellt wurde. Mehr als bei den später errichteten vor- und frühgeschichtlichen NS-Freilichtanlagen war man in Oerlinghausen an Jugendlichen als neue Zielgruppe interessiert. Auch scheint das Vermittlungskonzept in Oerlinghausen umfassender ideologisch unterfüttert. Geliefert wurde ein ganzheitliches, weltanschaulich elaboriertes Germanenprogramm, das weit über die eigentliche Museumsarbeit hinausreichte. Germanentheater, Sonnwendfeiern, der große historische Umzug zur Eröffnung, dramapädagogische Ansätze und programmatische Vermittlungskonzepte für Schule und Hitlerjugend sind in anderen nationalsozialistischen Freilichtanlagen in dieser Komplexität nicht nachgewiesen.
Institutionell unterstützt wurde das Oerlinghauser Germanengehöft durch das Reichserziehungsministerium und durch den „Reichsbund für Deutsche Vorgeschichte“ Hans Reinerths. Der reisefreudige Reichserziehungsminister Bernhard Rust eröffnete die Anlage im Mai 1936 – zu diesem Anlass erhielt er die Ehrenbürgerschaft der Stadt, Alfred Rosenberg als Vorgesetzter Reinerths kam im August 1937. Die Betreiber planten ab 1937 eine, durch mittelsteinzeitliche und frühmittelalterliche Gebäude, erweiterte Anlage zum zentralen Archäologiemuseum für den Gau Westfalen Nord auszubauen.
Die Gäste bekamen komplett eingerichtete Architekturinszenierungen zu sehen. Das bunte Patchwork der Ausstattungsgegenstände reichte innerhalb eines Raumes von der Bronzezeit bis zu neuzeitlichen volkskundlichen Analogien und sollte der Vermittlung eine überzeitliche Dimension verleihen: Präsentiert wurde das vermeintlich ewig Cheruskische in der Sachkultur, das man als organischen Grundstock der Kultur im Teutoburger Wald quer durch die Zeiten vermittelte. Die konstruierte Kontinuität der Lebensformen über die Jahrtausende hinweg versicherte den Besuchern, dass das aktuelle gesellschaftliche Modell auch das richtige Modell ist.
Oerl Bark
Das neue Germanenbild kulminierte 1936 in dem Theaterstück „Oerl Bark“ des Bielefelder Schulrektors Heinrich Meise das die frisch errichteten Germanenhäuser als Kulisse nutzte. Bildhoheit über die Germanenkostüme hatte der „Reichsbund für Deutsche Vorgeschichte“; die Schnittmuster griffen weitaus stärker als zuvor auf archäologische Befunde zurück. Dem Publikum wurde vermittelt, dass das präsentierte Germanenbild nun eine wissenschaftliche Basis habe. Im Schauspiel fällt die spätantike Ethnogenese der Sachsen mit der Gründung der Dorfschaft Oerlinghausen zusammen. Realisiert wird die Neuorganisation des Gemeinwesens durch den jugendlichen Sachsenführer Oerl Bark (Oerl steht für das so genannte Vorwerk Oerlinghausen, Bark für den Haupthof Barkhausen). Oerl Bark als Krieger und Bauer jagt dazu den Handel treibenden Römermischling Hobrand aus dem Revier.
Als Schauplatz des Theaters diente das „authentische“ ehemalige Grabungsgelände mit der in situ rekonstruierten Siedlung. Eingebunden wurde die komplette Fundtopographie der Umgebung: die Höhensiedlung Tönsberg, die Landwehren, die Gräberfelder. Des Weiteren kamen dabei auch Anspielungen auf die Gegenwart zum Tragen – der aus dem neuen Oerlinghausen vertriebene Römermischling flüchtet etwa nach Paderborn, was als Querverweis auf den dortigen Katholizismus wahrgenommen wurde. Im Stück erinnert sich die germanische Elterngeneration an den „Verrat an Arminius“ durch die eigenen Leute in einer Form, die 1936 sofort Assoziationen an die Dolchstoßlegende hervorrief. Die Schilderung des spätantiken Befestigungsgürtels am Rhein und an der Donau kann spiegelbildlich als Schilderung der Maginot-Linie und der Reparationszahlungen gelesen werden. So entstand ein mehrere Zeitebenen verschränkendes, aber dennoch durch seine Schablonenhaftigkeit leicht verständliches Heimatpaket mit Actionqualitäten.
Nicht zuletzt wurde das Germanengehöft zur politischen Bildung der SS genutzt. So besuchte es mehrfach die Belegschaften der Wewelsburg. Auch die Ordensburg Vogelsang reiste immer wieder an. Ab 1944 finden sich im Besucherbuch auffällig häufig Einträge von SS-Mitgliedern, die meist aus weit entfernten Regionen Deutschlands anreisten. Mit dem Ende des Krieges scheinen diese Besuche nicht abzubrechen. Im Lauf des Sommers 1945 verwilderte die Anlage jedoch zunehmend. Per Ratsbeschluss wurde sie danach auf Abbruch verkauft und am 18. Januar 1946 abgebaut.
Am 25. Mai 2021, also 95 Jahre nach der Eröffnung des Germanengehöfts, ist die Sendung "Zeitzeichen" im Radio erschienen.
Der Wiederaufbau 1961
Ab 1960 errichtete man ein neues Germanengehöft, das 1961 wieder in Betrieb ging. Zu diesem Zeitpunkt war es das einzige nichtrömische archäologische Freilichtmuseum zwischen Nordsee und Schwarzwald. Finanziert wurde der Aufbau ausschließlich durch private Spenden und Bürgschaften. Die Besucherzahlen waren im ersten Geschäftsjahr überwältigend: Es konnten beinahe 60.000 Eintrittskarten verkauft werden. Damit übertraf die Besucherresonanz in diesem ersten Jahr diejenige in der NS-Zeit bei weitem.
Der Neuaufbau der Museumsstrukturen Oerlinghausens setzte bereits in der frühen Nachkriegszeit ein: 1946 wurde August Reuter als Museumsleiter bestimmt. Reuter war von 1926 bis 1933 und wieder 1945 bis 1946 Bürgermeister der Stadt. Er konnte die Verluste im Sammlungsbestand trotz äußerst ungünstiger Bedingungen klein halten.
Aber auch der ehemalige Museumsleiter Hermann Diekmann plante bereits 1946 ein neues Germanengehöft. Sein Konzept zur Inneneinrichtung aus diesem Jahr zeigt eine atemberaubende Kontinuität. Die Einrichtungsskizzen sahen den exakten Wiederaufbau vor, lediglich das Hakenkreuz auf der Truhe sollte durch eine „Lebensrune“ ersetzt werden. Nachdem Hermann Diekmann, Reuter als Verwalter der Museumsbestände abgelöst hatte, begann er seine alten Kontakte zu reaktivieren. Schon im Januar 1952 korrespondierten Hans Reinerth und Diekmann über einen Neuaufbau. Als archäologische Grundlage sollten nun die Grabungen Hans Reinerths aus dem Jahr 1937 am Barkhauser Berg dienen. Der Ausgräber ging davon aus, dass die neuen Untersuchungen im Gegensatz zu denen von 1926 bis 1931 ausschließlich Fundmaterial aus der Zeit um Christi Geburt erbracht hatten. Allerdings liegen auch aus der Flächengrabung von 1937 im Magazin des Lippischen Landesmuseums früh- und hochmittelalterliche Funde in nennenswerten Mengen vor. In der Präsentation des Germanengehöfts wurde daraus ein „cheruskischer Grenzbauernhof um die Zeitenwende“ mit fünf Gebäuden. Jedes davon ging auf einen am Barkhauser Berg ausgegrabenen Hausgrundriss zurück. In einem didaktisch aufbereiteten Rundgang wurden die Besucherscharen durch ein Haupthaus, durch kleine Stallungen, durch eine Schmiede, durch eine Töpferei und schließlich durch ein Nebengebäude geleitet. Später wurde die Vermittlung durch eine Lautsprecheranlage gesteuert. Ein Backofen und Bienenstände nach eisenzeitlichen Vorbildern ergänzten das Ensemble.
Durch die fehlende hauptamtliche Betreuung stagnierte die Anlage in der Folge jedoch fachlich und wirtschaftlich. 1973 brannte die Anlage komplett ab. Davon konnte sich der Museumsbetrieb im Verlauf der 1970er Jahre nicht substantiell erholen.
Das Archäologische Freilichtmuseum ab 1979
Der Einstieg des Landesverbandes Lippe und der Stadt Oerlinghausen in die Förderung des Trägervereins ermöglichte einen dritten Neuanfang ab 1979. Die neuen Geldgeber bestanden auf einer konsequenten Hinwendung zur modernen Siedlungsarchäologie. Man nannte die Anlage nun nicht mehr Germanengehöft, sondern Archäologisches Freilichtmuseum. Das Gelände wurde unter der umsichtigen Leitung von Helmut Luley ausgebaut: Es entstand der große Rundgang, der auch heute noch im Wesentlichen Bestand hat. Zusammen mit dem Berliner Museumsdorf Düppel hat Oerlinghausen das Thema lebendige Archäologie in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte wieder salonfähig gemacht. Diese Pionierleistung hat einen Durchbruch markiert – im Fach konnte wieder über vorgeschichtliche Freilichtanlagen nachgedacht werden.
Die komplette Geschichte zum Download
Hierbei handelt es sich um eine gekürzte Version der Museumsgeschichte in: Karl Banghard: Das Archäologische Freilichtmuseum Oerlinghausen. Lippische Kulturlandschaften, Oerlinghausen 2018. Hier zum Download.